Viktor E. Frankl: Das Leiden am sinnlosen Leben.

Das Buch enthält eine Sammlung von Vorträgen und Vorlesungen, die Viktor Frankl an verschiedenen Orten zwischen 1957 und 1975 gehalten hat. Der gemeinsame Rote Faden aller Aufsätze ist die menschliche Frage nach dem Sinn und die damit zusammenhängende Logotherapie als eine besondere Art der Psychotherapie, die Menschen helfen soll, diese Frage nach dem Sinn in ihrem Leben wahrzunehmen und auch zu beantworten. Frankl schreibt, dass es an der Zeit sei „eine Höhenpsychologie“ einzuführen, die die bisherige Tiefenpsychologie ergänzt. Was meint Viktor Frankl damit?

Das Auftreten der noogenen Neurose
Sigmund Freud entwickelte aufgrund der sexuellen Frustration, die die Menschen zu seiner Zeit erlebten, die Psychoanalyse. Viktor Adler suchte in der Entwicklung der Individualpsychologie eine Antwort auf das die Gesellschaft ergreifende Erleben von Minderwertigkeit. Frankl konstatiert nun, dass es an der Zeit sei, die menschliche Frage nach dem Sinn auch im Rahmen der Psychotherapie aufzugreifen. Mit einer Fülle von persönlichen Briefen und wissenschaftlichen Studien belegt er die „existentielle Frustration“ der westlichen Gesellschaft von heute. Es handle sich um eine „noogene Neurose“ (vom griechischen Wort „nous“ für „Geist“ stammend), die sich in der westlichen Welt breit gemacht habe. Frankl verwehrt sich, das Fragen nach dem Sinn an sich als psychische Krankheit darzustellen, von der der Mensch befreit werden müsse. Die Sinnfrage ist für ihn wesentlicher Bestandteil menschlicher Existenz. Sie kann nicht wegtherapiert werden, sie kann nur von jedem einzelnen wahrgenommen und beantwortet werden.

Kritik an der bisherigen Entwicklung der Psychotherapie
In diesem Sinne formuliert Frankl auch eine Kritik an einer Form der Psychoanalyse, in der die Frage nach dem Sinn nicht mehr vorkommen darf. Eine Therapieform, die die Personalität des Menschen nicht mehr in den Blick nimmt, wird der menschlichen Existenz nicht gerecht. Die Logotherapie ist für Frankl eine notwendige Ergänzung, eine Form der Rehumanisierung der Psychotherapie. Der Psychoanalyse, so wie sie von Freud entwickelt worden ist, haftet der Mangel an, das Seelenleben des Menschen nur im Rahmen eines mechanistischen Modells zu erklären. Die Persönlichkeit des Menschen ist ein „seelischer Apparat“, der die unterschiedlichen Reize seitens der Instanzen des Es und des Über-Ich zu regulieren und auszugleichen hat. Frankl stellt an Freud die Frage: Wer ist es, der verdrängt? Dieses „Wer“, die Persönlichkeit kommt nach Frankl bei Freud nicht in den Blick. Weiters kritisiert Frankl die Freudsche Tendenz, alle Kultur- und Sinnleistungen des Menschen als Sublimationen und Kompensationen seines sexuellen Triebs zu sehen. Das ist für Frankl ein unzureichender Reduktionismus. Nicht jede Neurose wurzelt in der Kindheit und nicht jede nichtanalytische Psychotherapie ist eine minderwertige Psychotherapie.

Auch bei Alfred Adler sieht Frankl keinen Ansatz der das Person-Sein des Menschen in den Mittelpunkt der Psychotherapie stellt. In der Individualpsychologie gibt es kein Personales, denn es entscheiden die Bedingungen der Gesellschaft über „Haltung und Einstellung des Menschen“. Bei Carl Gustav Jung findet Frankl über die Neurose zwar den Satz, dass sie das Leiden der Seele ist, die ihren Sinn nicht gefunden hat, aber auch bei Jung fehlt ihm die Person als eine überpsychologische Instanz.

Frankl spricht in seinen Aufsätzen immer wieder von einer sexuellen Frustration, einer Frustration des eigen Selbstwerts und einer existentiellen Frustration. Die ersten beiden Frustrationen wurden in der Psychotherapie durch Freud, Jung und Adler behandelt und diagnostiziert. Die Diagnose der existentiellen Frustration, der Sinnleere wird durch die Logotherapie erstellt.

Erst die Logotherapie stöß für Frankl in die personale Dimension des Menschseins vor, oder besser gesagt, erst die Logotherapie nimmt als Psychotherapie die spezifisch humane und personale Dimension des Menschen wahr. Frankl will die Errungenschaften des dynamischen Psychologismus, wie er die tiefenpsychologischen Strömungen nennt, nicht bestreiten, aber er verweist mit Vehemenz auf die Dimension des Geistigen, des Sinnhaften, des Personalen im Menschen, die auch Ursache von Neurosen werden können. Frankl nennt dies die Noogenese von im Unterschied zur Psychogene und Somatogenese von neurotischen Störungen.

Die zutiefst menschliche Dimension der Sinnfrage zeigt sich für Frankl darin, dass sie in jeder Lebensform und Lebenslage auftreten kann. In den reichen Industrieländern der nördlichen Halbkugel zeigt sie sich trotz Überbefriedung aller menschlicher Grundbedürfnisse. In Situationen ärgster Bedrängnis und großem Leid drängt sie sich ebenfalls dem Menschen auf und will beantwortet sein.

Sinn wird nicht gemacht sondern gefunden
Frankl ist davon überzeugt, dass Sinn nicht erzeugt oder gemacht werden kann, er kann vom Menschen nur gefunden werden. Drei Bereiche werden hierbei hervorgehoben: Zum einen findet der Mensch Sinn, indem er etwas schafft oder sich an eine Aufgabe oder auch einen Menschen hingibt. Weiters findet der Mensch Sinn oder erlebt Sinn in der Begegnung. Am deutlichsten wird dies, wenn Menschen die Erfahrung machen, geliebt zu werden. Aber auch in der Begegnung der Natur wird Sinn wahrgenommen. Und als dritte Dimension der Sinnfindung beschreibt Frankl das Leiden oder das Ausharren in scheinbar ausweglosen Situationen. Frankl verweist hierbei u. a. auf die Erfahrungen von Leidensgenossen im Konzentrationslager während des Nationalsozialismus. Im Willen zum Sinn konnten sie die furchtbaren Verhältnisse ertragen.

Glück-Lust-Sinn
Anhand der beiden Begriffe Glück und Lust zeigt Frankl auf, wie sie in ein menschliches Sinnkonzept eingebettet sein müssen, um erreicht werden zu können. Im eigentlichen Sinn können sie gar nicht direkt erreicht werden, sondern Glücklichsein und Lust stellen sich sozusagen als Nebenwirkungen aufgrund von Sinn-Erfahrungen ein. Wer das Glück oder die Lust um seiner selbst willen beständig verfolgt, wird sie nicht finden. Für Frankl ist dies die „pathogene Abwendung“ vom Grund zum Glücklichsein, nämlich der Suche, dem Willen zum Sinn. Und so entsteht in der noogenen Neurose eine Hyperreflexion, ein direktes übertriebenes Streben nach Glück und Lust. Wer aber ständig die Lust und das Glück um seiner selbst willen erleben will, wird sie auf Dauer verlieren. Sie können nur gefunden werden, wenn sie eingebettet sind in die Erfahrungen von Sinn, in die Erfahrungen von Hingabe an eine Aufgabe und/oder einen Menschen.

Die paradoxe Intervention
Frankl erkennt an, dass der Mensch durch viele psychische, somatische und soziale Bedingtheiten bedingt, eingeschränkt ist. Die Dimension des menschlichen Geistes ermöglicht aber dem Menschen in diesen Bedingungen nicht unterschiedslos aufzugehen, sondern sich zu ihnen zu verhalten. Psychische, somatische und soziale Bedingtheiten können oft in ihrem faktischen Dasein nicht geändert werden, aber der Mensch kann seine geistige Einstellung zu ihnen verändern. Diese Möglichkeit der Veränderung ist eine Dimension menschlichen Geistes. Aus ihr erwächst das, was Frankl unter dem Begriff der paradoxen Intervention beschreibt . Frankl beschreibt, dass nicht das psychische oder physische Leiden an sich das große Problem ist, sondern die menschliche Angst davor. Indem der Mensch sich vor einer Störung (z. B. Zittern, Schwitzen, Nicht-Schlafen..) besonders fürchtet und sie daher in seiner Einstellung unbedingt vermeiden will, erzeugt er sie dadurch um so mehr. Nun ist es dem Menschen aber möglich seine geistige Einstellung zu seiner Störung paradox zu verändern.

Frankl schildert einige Berichte von Ärzten, Psychotherapeuten und Laien, die erfolgreich die paradoxe Intervention angewandt haben. So beschreibt Frankl den Blinzeltick eines junges Mannes, der ihn unbedingt loshaben wollte. Der beratende Arzt machte ihm den Vorschlag, er solle doch in die nächste Begegnung mit der Absicht hineingehen, möglichst viel zu blinzeln. So nach dem Motto: Jetzt zeig ich denen mal, wie gut ich blinzeln kann. Der lehnte die Empfehlung erbost ab und verließ die Ordination. Nach einigen Wochen berichtete der „Patient“, dass er die Empfehlung doch ausgeführt hatte und zu seiner größten Überraschung außerstande war auch nur ein einziges Mal zu blinzeln.

Logotherapie und Religion
Die enge Bindung der Logotherapie an die menschliche Frage nach dem Sinn wirft die Frage auf, ob damit die Logotherapie nicht in ein zu nahes Verhältnis zur Religion bekommt. Frankl widmet in seinem Buch diesem Thema einen eigenen Aufsatz. Für die Logotherapie kann die Religiösität eines Menschen immer nur ein Phänomen unter anderen sein; niemals darf Religion und Glaube als der eigentliche Standort der Logotherapie gesehen werden. Andererseits will die Logotherapie die Dimension des Religiösen, sofern sie für einen Menschen ein Rolle spielt, auch nicht leugnen oder wegtherapieren, sondern erkennt sie an, als eine Form, Sinn in seinem Leben zu finden. Frankl bezeichnet die gläubige Haltung eines Menschen als „ultra-humane Dimension“, die nicht einfach aus dem Persönlichkeitsbild gestrichen werden kann.

Die Differenzierung zwischen Logotherapie und Religiösität, was die Sinnfrage betrifft, nimmt Frankl wie folgt vor: Logotherapie kann den Menschen nur bei der Beantwortung der Frage nach dem „Wofür in einem Leben“ begleiten. Die Logotherapie setzt voraus, dass die Beantwortung dieser Frage für einen Menschen, ob er nun religiös ist oder nicht, möglich und sinnvoll ist. Die Frage nach dem „Wovor“ kann von der Logotherapie nicht beantwortet werden. Ob sich nun ein Mensch vor der Gesellschaft, vor seinem Gewissen oder vor einem Gott verantwortlich fühlt für sein Tun, entscheidet der Patient und wird von der Logotherapie offen gelassen.

Reflexion
Der Ansatz der Logotherapie fasziniert durch das Ansinnen, das spezifisch Menschliche, das Personale auch in der Entwicklung der Psychotherapie nicht aus dem Blick zu verlieren. Frankls Verdienst sehe ich darin, dass er die Frage nach dem Menschen, und die Frage was zum Menschsein dazugehört nicht im Rahmen einer psychischen oder naturwissenschaftlichen Spezialdisziplin, sondern im Rahmen einer philosophischen Reflexion stellt. Damit versucht er der Gefahr zu entgehen, den Menschen eindimensional und reduktionistisch zu bestimmen. Vielleicht liegt es in seiner Ausbildung zum Arzt, Psychotherapeut und Philosoph, dass er versucht hat, den Menschen in seiner Vielschichtigkeit wahrzunehmen und gerecht zu werden. Frankl ist kein Mensch des entweder oder. Er sieht die biologischen, psychischen und geistigen Dimensionen von Krankheit und Gesundheit und tritt auch dafür ein, den einzelnen Dimensionen des Menschseins entsprechend gerecht zu werden.

Über ausserwoeger

Ausbildungen: Magister der Philosophie (Studium in München und Wien) Magister der Theologie (Studium in Linz) Dipl. Ehe- und Familienberater Psychotherapeut (Systemische Familientherapie)
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8 Antworten zu Viktor E. Frankl: Das Leiden am sinnlosen Leben.

  1. Liker schreibt:

    Dies ist wohl die treffendste und prägnanteste Version einer Zusammenfassung von Frankls Grundsätzen, die ich je gelesen habe.

  2. Schließe mich der Meinung von Liker uneingeschränkt an.

  3. Skorge schreibt:

    Als angehender Psychotherapeut habe ich von den in diesem Buch vertretenen Ideen sehr profitiert, auch wenn ich Frankls Ausdrucksweise manchmal etwas umständlich finde.

  4. Stefan schreibt:

    Gute Zusammenfassung, allerdings entwickelte Frankl die „Paradoxe Intention“, nicht die „Paradoxe Intervention“.

  5. Fredo schreibt:

    Herzlichen Dank für die sehr informative und zeitsparende Zusammenfassung.

  6. Deutsch Beatrice schreibt:

    Endlich, endlich ein Wisswnschaftler, Arzt, welcher eine mögliche Erklärung für empfundene
    Ambivalenzen und Leiden gibt!!!!

  7. Deutsch Beatrice schreibt:

    Endlich, endlich ein Wissenschaftlicher Arzt, welcher eine mögliche Erklärung für empfundene
    Ambivalenzen und Leiden gibt!!!!

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